Sind ständige Leistungsbilanzüberschüsse ein Segen oder ein Fluch?

von Prof. Dr. Michael Graff, KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich

Die deutsche Wirtschaft weist seit über 2 Jahrzehnten deutliche Leistungsbilanzüberschüsse auf, das heißt, der Wert der Exporte übersteigt den Wert der Importe. Dies zeugt von der Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrie. Die Genugtuung darüber hat aber auch makroökonomische Gründe:

(1) Ein Überschuss zeigt an, dass mehr Wertschöpfung im Inland für Exporte ins Ausland stattfindet als in umgekehrter Richtung. Damit gibt es im Inland mehr Produktionsvolumen, als sonst der Fall wäre – mit entsprechenden Auswirkungen auf das Arbeitsvolumen, den Kapitaleinsatz und das Steuersubstrat.

(2) Leistungsbilanzüberschüsse führen zu Kapitalexporten in gleicher Höhe. Das Land häuft also kumulativ Auslandsvermögen an; es erwirbt Forderungen auf Kaufkraft im Ausland.

(3) Der seit Mitte der Nuller-Jahre zu beobachtende Überschuss bei den Primäreinkommen zeigt, dass die Inländer mehr Faktoreinkommen aus dem Ausland beziehen als in umgekehrter Richtung. Die Kaufkraft der Inländer ist also höher als die Produktion im Inland.

Die positiven Aspekte dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies aus gesamtwirtschaftlicher Sicht in der längeren Frist anders zu betrachten ist. Zum einen handelt es sich um ein Ungleichgewicht in der Weltwirtschaft, wobei andere Länder die Überschüsse laufend absorbieren müssen, mit entsprechenden Konsequenzen für deren inländische Wertschöpfung. Dies führt im Rest der Welt zu Verdruss und Kritik; aber auch die rein inländische Sicht darauf wirft Fragen auf. Bei einem Leistungsbilanzüberschuss ist die inländische Absorption geringer als die Produktion, inländische Ersparnisse finanzieren den Überschuss und die damit einhergehende Verschuldung des Auslands gegenüber dem Inland. Auf Dauer ist dies aus inländischer Sicht keine rationale Perspektive. Ein Land kann zwar dauerhaft unterhalb seiner Verhältnisse leben und dafür Auslandsvermögen anhäufen. Real gesehen ist dann aber die Verfügung der Inländer über Güter und Dienstleistungen geringer als bei einer ausgeglichenen Leistungsbilanz. Wenn die Inanspruchnahme mit dem Anspruch gleichziehen soll, muss der Leistungsbilanzsaldo negativ werden, andernfalls werden die kumulierten Ansprüche nicht eingelöst, und das Nettoauslandsvermögen wird am Ende wie abzuschreibender Kredit zu verbuchen sein.

Daraus können sich folgende Fragestellungen ergeben:

  1. Sollte Deutschland weiterhin Jahr für Jahr massive Leistungsbilanzüberschüsse erwirtschaften?
  1. Wenn nein, welches ist eine denkbare zeitliche Perspektive für einen Abbau auf null und gegebenenfalls für eine Periode negativer Saldi? Gibt es Beispiele dafür aus der Wirtschaftsgeschichte anderer Länder?
  1. In welchen Teilbilanzen der Leistungsbilanz dürften die Verschiebungen manifest werden? In welchem relativem Ausmaß? In welcher Sequenz?
  1. Wie könnte die Politik Wirtschaft und Gesellschaft darauf vorbereiten? Zu untersuchen sind hier unter anderem die inländischen Arbeits- und Kapitalmärkte.
  1. Welcher Strukturwandel wäre damit zu erwarten, und wie kann die Wirtschaftspolitik darauf vorbereiten?
  1. Wie setzt sich die akkumulierte Auslandsersparnis momentan zusammen? Wer verfügt darüber?
  1. Welche Wertentwicklung hat die Auslandsersparnis in der Vergangenheit erfahren? Welchen Einfluss haben die Anlageklassen und –währungen. Wie bedeutend sind die Effekte von Nominalertrag und Wechselkursentwicklung? Gibt es Beispiele dafür aus der Wirtschaftsgeschichte anderer Länder?
  1. Können sich aus der Analyse des Auslandsvermögens Szenarien für die Zukunft ableiten lassen? Welche Implikationen wird es haben, wenn aus dem Nettokapitalexport einmal ein Nettokapitalimport werden sollte? Gibt es Beispiele dafür aus der Wirtschaftsgeschichte anderer Länder?
  1. Bietet ein Strukturwandel von einer nettoexportierenden zu einer nettoimportierenden Wirtschaft Gelegenheit, die bevorstehende demographische Transition abzufedern? Was kann die Wirtschaftspolitik unternehmen? Gibt es Beispiele dafür aus der Wirtschaftsgeschichte anderer Länder? Wie kann man sich das praktisch vorstellen?
Must-Read Literatur

Behringer, Jan, van Treeck, Till and Truger, Achim (2020), How to reduce Germany’s current account surplus? Forum New Economy Working Papers. No. 8.

Grömling, Michael und Matthes, Jürgen (2016), Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss – Fluch oder Segen? Wirtschaftsdienst, 96. Jahrgang, Heft 11: 787–805.

Weiterführende Literatur

Graff, Michael (2019), China’s Balance of Trade in the Future, in: The Sleeping Giant Awakes – Global Views on China’s Transformation after Four Decades of Reform and Opening-up, China Watch, Beijing, 94–104. (wird zur Verfügung gestellt)

Petersen, Thieß (2018), Germany‘s export surpluses – Asset accumulation for the future? Bertelsmann Stiftung, Gütersloh.

Hinweis vom YES!-Team

In der Informationsreihe „Wirtschaft verstehen, Zukunft gestalten“ veröffentlicht der Verein für Socialpolitik, einer der größten Vereinigungen von Wirtschaftswissenschaftler:innen aus dem deutschsprachigen Raum, unter dem Slogan „Wirtschaftsthemen – einfach erklärt“ Beiträge prominenter Mitglieder, die aktuelle Fragen unserer Zeit verständlich beantworten. Zu einigen Beiträgen gibt es zusätzlich kurze Videos und/oder Zeitungsartikel.

Besonders interessant für dieses YES!-Thema ist der Beitrag „Welthandel – Protektionismus und die Folgen für das deutsche Wirtschaftsmodell“ von Lisandra Flach, https://www.socialpolitik.de/de/welthandel-protektionismus.

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Das Thema wird betreut von

Michael Graff

Prof. Dr. Michael Graff

Prof. Dr. Michael Graff leitet den Forschungsbereich „Konjunkturprognosen“ an der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. Er erwarb seinen Diplomabschluss in Soziologie und seinen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hamburg und habilitierte in Wirtschaftswissenschaften an der Technischen Universität Dresden. In den Jahren 2003 und 2004 arbeitete er als Economic Advisor für die Reserve Bank of New Zealand in Wellington. Von 2005 bis 2007 war er Senior Lecturer in Wirtschaftswissenschaften an der University of Queensland in Brisbane. Seit 2007 leitet er den Bereich Konjunkturprognosen an der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. Von 2011 bis 2015 hatte er zudem eine Teilzeitstelle als Professor für Entwicklungsökonomie an der Jacobs University in Bremen inne. Im Jahr 2012 wurde er zum Titularprofessor für Volkswirtschaftslehre an der ETH Zürich ernannt.